Für die meisten Menschen ist der Marathonlauf über 42,195 km die längste Laufstrecke, die sie kennen. Es gibt aber Laufstrecken im Ultramarathon, die über viele Stunden bis Tage oder Hunderte bis Tausende von Kilometern und Meilen gehen. In der Schweiz finden immer mehr Ultramarathons statt und wir haben hier etliche Ultraläufer auf internationalem Topniveau. Dazu gehört auch Dominik Kelsang Erne. Der ehemalige Emmentaler hat eben Mitte Mai in Basel zum dritten Mal die Schweizermeisterschaften im 24-Stundenlauf gewonnen.
Was muss man sich genau unter Ultra-Marathon vorstellen?
Dominik K. Erne: Unter Ultramarathon versteht man einen Lauf, der länger ist als die klassische Marathondistanz mit seinen 42,195 Km. Ultramarathon boomt – heute gibt es nahezu jedes Wochenende Ultramarathon-Wettkämpfe wie z.B. der 100 km Klassiker in Biel, 100 Meilen-Läufe auf Strasse und in Gebirge, dann auch Stundenläufe auf einer Tartanbahn (6h,12h,24h,48h,72h und noch länger) wie auch Etappenläufe von mehreren Tagen durch ganz Europa sowie sogenannte Backyard Ultra’s. Im Ultramarathon sind bezüglich Distanzen keine Grenzen gesetzt. Das macht das Ganze auch extrem interessant. Man kann in diesem wunderbaren Sport seine Grenzen im Physischen wie auch im mentalen Bereich ausloten und seine Grenzen erweitern.
Können Sie uns ein bisschen über sich erzählen und wie Sie zum Ultra-Laufen gekommen sind?
Der Sport war für mich schon immer extrem wichtig – zum Ausgleich und auch als Leistungssport. Meine Jugendzeit und Jungerwachsenenzeit war indes geprägt durch ein intensives Jahrzehnt von Technopartys und alles, was dazugehört. Deshalb geriet damals der Fokus auf den Sport ein wenig in den Hintergrund. Die Faszination nach längeren Läufen war jedoch schon früh präsent. So absolvierte ich zwischen 2005 und 2010 bereits mehrere Läufe von 10 Kilometer und Marathondistanzen. Der Sprung zum Ultrasport fand 2010 statt. Durch ein Werbeposter in Zürich bekam ich dann plötzlich Wind von Ironman-Triathlon und wollte dann unbedingt einen solchen Ironman finishen. Dies brachte ich – dank diszipliniertem Training und angepasstem Lifestyle – dann 2011 auch hin. Obwohl ich Ironman-Triathlon liebe und dem Triathlon bis heute treu geblieben bin, war der Drang zu noch längeren Wettkämpfen – vor allem mit Bezug zur Natur und Berge – sehr gross. Und dies führte mich zum Ultramarathon und dem ersten grossen Finish eines Ultra’s 2014 in Gran Canaria. Hier standen 127Km mit 7500 Höhenmeter auf dem Programm, die ich zusammen mit einem Freund in über 27 Stunden zu Ende brachte. Dieses Race hat ganz viele Emotionen ausgelöst und war der Anfang meiner «Ultramarathon-Karriere». Seit 2014 praktiziere ich nun regelmässig Ultramarathons.
Erklären Sie doch mal, was an dieser Art von Laufen so toll sein soll!
Laufen steht für mich für Freiheit, Freude, Leidenschaft, Genuss, Leistung, Erfüllung. Ich laufe wenn es mir gut, und auch wenn es mir nicht so gut geht. Das Ergebnis nach dem Lauftraining ist jeweils dasselbe: Man fühlt sich gut, fit, freudig. Alles ist ok. Das Laufen hilft auch Situationen oder Herausforderungen neutraler zu betrachten, man relativiert durch Training und der Ausschüttung von Dopamin viele Situationen und bewertet diese neu – positiver. Manchmal kommen mir auch neue Ideen und Lösungen in den Sinn. Beim Ultralaufen im Speziellen kommt dann noch die Mischung zwischen der physischen und mentalen Komponente hinzu. Das gefällt mir.
Wie bereiten Sie sich mental auf diese Rennen vor?
Da gibt es viele mentale Techniken, die man anwenden kann. Ich praktiziere:
- jeden Tag Chi Kung: Das ist eine asiatische Meditations-, Konzentrations- und Bewegungsform zur Kultivierung von Körper und Geist.
- Visualisierungen in Training und Wettkämpfen: Es geht darum, dass man sich eine Zukunftsvorstellung seines eigenen erfolgreichen Wettkampfs macht, so als hätte man das sich gesetzte Ziel bereits erreicht. Man wendet dabei alle seine Sinne an und macht dieses Training bequem zuhause auf dem Sofa.
- Positive Selbstgespräche zwecks Krisenmanagements: Um in guten und schlechten Race-Situationen bereit zu sein, um sich zu motivieren, und um mehrere Optionen bzw. Antworten in Krisen zu haben.
- Besichtigung des Parcours: Die Strecke des Laufs besichtigen, ablaufen und prüfen, wo es mögliche Herausforderungen und Schlüsselstellen gibt und wie man diese meistert.
Wie wichtig ist der mentale Aspekt?
Extrem wichtig! Je länger der Lauf, desto wichtiger das Mentale. Ich würde sogar so weit gehen und behaupten, dass es sich im Kopf entscheidet, ob man einen DNF (Did not Finish), einen Finish oder Sieg erreicht. Der Kopf gibt die Richtung vor. Trainiert man den Kopf entsprechend, managet er Krisensituationen viel besser und effizienter. Dies wiederum hat einen positiven Einfluss auf den Körper, da der Körper auf den Kopf hört, d.h. so lange der Kopf kann, kann auch der Körper – Stunden für Stunden für Stunden. Ein weiterer zentraler Aspekt ist das Umfeld: Es braucht ein gutes Umfeld und dessen Unterstützung. Ich bin sehr dankbar, dass mich meine Freundin und Familie sowie gute Freunde stets unterstützen. Speziell erwähnen möchte ich Roger Koch, ein guter Freund, der als Franchising-Partner von Swisscom mittels eines Shops in Burgdorf verankert ist. Denn am Backyard Ultra Lauf letzten Jahres in Jegenstorf war es Roger und seine Familie, die fast 27 Stunden vor Ort waren, um mich zu unterstützen. Die Familie Koch hat hierbei eine wesentliche Rolle gespielt, dass der Wettkampf so gut lief und ich diesen gewinnen konnte.
Wie regeln Sie Trinken und Essen während diesen Wettkämpfen?
Um einen Plan zu haben, erstelle ich mir einen Verpflegungsplan in Excel-Version, den ich dann versuche auswendig zu lernen und im Rennen umsetze. Im Prinzip braucht mein Körper alle 20 Minuten rund 15g Sponsergel, etwas Wasser, Salz, später dann Cola als Koffeinlieferant. Auch auf dem Menüplan stehen alle drei Stunden ein Red Bull und bei Läufen ab 50km Bananen, Orangen, Madeleines, Schleckzeug, Apfelmus und ab ca. 10h Nudeln und Bouillon. Wichtig ist, dass man konsumiert, wenn man in Bewegung ist. Wenn man mit 5 km pro Stunde läuft, ist das immer noch besser, als wenn man mehrere Minuten lang stehen bleibt oder sogar absitzt. Denn dies unterbricht die Anstrengung, der Puls fällt runter und der Re-Start fällt schwieriger aus.
Die besten Ultrarunner entwickeln unter Druck eine ruhige Haltung und haben eine unglaubliche Kraft, um durchzuhalten, und das nicht in Minuten, sondern in Stunden und sogar Tagen, wenn sie absolut erschöpft sind. Kennen Sie dieses Gefühl?
Ja, teilweise. Das Ultralaufen hat eine enorme Kraft und Wirkung auf die Haltung und Einstellung. Ich selbst verdanke dem Ultralaufen sehr viel. Es ist vor allem in Krisensituationen sehr hilfreich: Statt in Panik zu geraten, bleibt man ruhig und überlegt sich, die verschiedenen Optionen (denn es gibt immer mehrere) und welche Lösungen sich am Geeignetsten anbieten. Wie vorhin erwähnt, spielt hierbei der Kopf eine zentrale Rolle. Solange der Kopf kann, kann auch der Körper! Um eine Top-Leistung im Rennen abzurufen, ist jahrelanges physisches Training – ich selbst laufe im Schnitt 100 Kilometer pro Woche und mache noch Kraftausdauertraining, ein bisschen Velo und Schwimmen – und auch das mentale Training zentral. Dies verhilft es dem Sportler, in Situationen, in welchen es darauf ankommt, das Maximum herauszuholen.
Wer inspiriert Sie? Wer sind Ihre Mentoren?
Da gibt es ganz viele, beispielsweise Dalai Lama und Nelson Mandela. Im Sport sind dies die Ultramarathonläuferin Courtney Dauwalter, die Ironman-Weltmeisterin Chrissie Wellington und weitere. Privat ist dies meine Mutter und auch meine Freundin. Sie alle verbindet einen riesengrossen Willen, Zielstrebigkeit, die «Never Give Up» Mentalität und die Einfachheit, Unbekümmertheit und der Fokus aufs Positive sowie ihr Lächeln.
Was ist die wichtigste Lektion, die Sie mit dieser Sportart gelernt haben?
«Anything is possible». Der Sport hat mir klar aufgezeigt, dass im Leben – speziell hier in der Schweiz – nahezu alles möglich ist, wenn man danach glaubt und strebt, viel dafür arbeitet, immer dranbleibt und einfach alles gibt. Es braucht den Body, Mind und Spirit.
Wie würden Sie Erfolg in einem Satz definieren?
Das Leben so leben zu können und zu dürfen wie man es sich wünscht, und dann entsprechend kreiert, glücklich mit sich selbst und seinem Umfeld ist und gute Gesundheit. Das nötige Glück und Erfolg – sei es im Beruf oder im Sport, kommt dann oftmals auch automatisch.
Was ist die wichtigste Persönlichkeitseigenschaft, die Ihnen Ihrer Meinung nach bis jetzt in dieser Extremsportart sehr geholfen hat?
Die Resilienz auch in schwierigen Situationen weiterzumachen, zu wachsen und auch in negativen Situationen Positives zu sehen – auch wenn es nicht immer einfach ist. Dann ist dies der Glaube an meine eigenen Stärken.
Was kommt als nächstes für Sie, was möchten Sie noch tun oder erreichen?
Ich habe meinen wichtigsten Wettkampf des Jahres eben hinter mir: Die Schweizermeisterschaften im 24-Stundenlauf in Basel Mitte Mai. Mit einer Distanz von 229 Km habe ich diesen Wettkampf gewonnen. Ich bin sehr glücklich, bei meiner dritten Teilnahme an den Schweizermeisterschaften, den dritten Titel feiern zu dürfen. Als nächste nennenswerte Wettkämpfe stehen die Weltmeisterschaften im 48 Stundenlauf in England im August an, und der Backyard Ultra Lauf in Jegenstorf Mitte September. Zum Jahresabschluss gibt es dann noch ein 100 Meilen-Trail-Rennen in Schweden.
Interview: Corinne Remund
Dominik Kelsang Erne hat Schweizerische und Tibetische Wurzeln, ist in Burgdorf geboren und aufgewachsen. Der 42-Jährige lebt mit seiner Freundin und zwei Hunden in Genf. Ultramarathon und Triathlon sind seine grossen Leidenschaften. Der Marketing- und Kommunikationsspezialist ist 3-maliger Schweizermeister im Ultramarathon (24h-Lauf). CR